Die Sprache als Schlüssel zur Wahrnehmung der Realität
Die Sprache ist weit mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Sie prägt nachhaltig, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und interpretieren. Der enge Zusammenhang zwischen Sprache und Realitätswahrnehmung fasziniert Sprachwissenschaftler und Philosophen seit jeher. Denn Sprache ist keine isolierte Kulturtechnik, sondern tief in unserem Denken und Erleben verwurzelt. Sie liefert die mentalen Werkzeuge und Kategorien, mit denen wir Realität konstruieren und Sinn stiften.
Die linguistische Relativitätstheorie
Eine der einflussreichsten Theorien zu diesem Thema stammt von den Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf. Ihre „Sapir-Whorf-Hypothese“ oder linguistische Relativitätstheorie besagt, dass die Struktur einer Sprache die Denkweise und Weltanschauung der Sprecher entscheidend formt und prägt.
Unterschiedliche Sprachen schaffen demnach unterschiedliche Versionen und Wahrnehmungen der erlebten Realität für ihre Sprecher. Sapir drückte es so aus: „Die Welt spiegelt sich in unterschiedlichen Sprachen auf unterschiedliche Arten wider.“
Konkretes Beispiel: Die Inuit und der Schnee Ein vielzitiertes Beispiel für diese sprachliche Formung von Realitätswahrnehmung sind die zahlreichen Begriffe der Inuit für verschiedene Arten von Schnee und Eis. Die detaillierten sprachlichen Differenzierungen der Schneearten in Begriffen wie „aqiluk“ (losgelöster Schnee), „kernertuluar“ (Schneekruste auf Eis) oder „masak“ (nasser Schnee aus dem die Iglus gebaut werden) zeigen, wie essenziell und allgegenwärtig „Schnee“ im Leben und der Kultur der Inuit ist.
Für uns erscheint diese feingranulare Wahrnehmung und Kategorisierung von Schnee aufgrund unseres eher oberflächlichen sprachlichen Zugangs höchst befremdlich. Unsere Wahrnehmung von Schnee ist somit sprachlich stark eingeschränkt.
Farben und Farbbezeichnungen
Auch die Art und Weise, wie Farben in Sprachen enkodiert und versprachlicht werden, prägt unsere Farbwahrnehmung fundamental. Farbbezeichnungen und deren feine Abstufungen variieren extrem stark zwischen Sprachen. So haben beispielsweise das Russische getrennte Grundbegriffe für helle und dunkle Blautöne („goluboy“ und „siniy“), die im Deutschen beide mit dem allgemeinen Begriff „blau“ zusammengefasst werden.
Wissenschaftliche Studien von Sprachwissenschaftlern wie Paul Kay und Brent Berlin konnten diesen Einfluss der Sprache auf die Farbwahrnehmung eindrucksvoll belegen. Menschen nehmen demnach mehr Farbabstufungen und -nuancen in Bereichen wahr, für die ihre Muttersprache auch unterschiedliche Begriffe und Bezeichnungen bereitstellt. Eine differenzierte Versprachlichung schärft also die visuelle Wahrnehmung.
Der Einfluss der Sprachstruktur
Doch nicht nur die semantischen Unterschiede, auch die strukturellen und grammatischen Merkmale von Sprachen beeinflussen, wie wir die Welt konzeptualisieren und wahrnehmen. So haben Sprachen mit einer klaren Zeitmarkierung für die Vergangenheit wie „ging“ oder „hatte gemacht“ einen anderen Zugang und Fokus zur Konzeptualisierung von Zeit als Sprachen ohne dieses grammatische Konzept.
Eine Studie der Stanford-Psycholinguistin Lera Boroditsky zeigte beispielhaft, wie die Art der Zeitausdrücke in Sprachen direkte Auswirkungen auf das abstrakte Zeitverständnis haben kann. So ordnen Sprecher der australischen Sprache Kuuk Thaayorre Zeit eher räumlich-geographischen Richtungen (Norden, Süden etc.) zu, da ihre Sprache keine zeitlichen Deixis wie „nächste Woche“ kennt, sondern auf Richtungsausdrücke setzt.
Kognitiver Einfluss der Versprachlichung
Nicht zuletzt konnte die Kognitionsforschung zeigen, dass unser Denken, unsere Entscheidungsfindung und Schlussfolgerungen stark durch die Art und Weise beeinflusst werden, wie wir sprachlich Sachverhalte ausdrücken und enkodieren.
Studien der Stanford-Psychologin Lera Boroditsky legten nahe, dass Menschen riskantere Entscheidungen fällen, wenn ein Sachverhalt in einer Verlustframe formuliert wird, als wenn derselbe Sachverhalt in einer Gewinnframe beschrieben wird – obwohl die objektive Sachlage identisch ist. Die sprachliche Rahmung lenkt die Wahrnehmung und Bewertung.
Ähnliches gilt für Studien des Psychologen Paul Thibodeau, der Probanden kurze Berichte über Stadtkrisen wie Kriminalität oder Obdachlosigkeit vorlas – einmal mit einer Metapher wie „Die Kriminalität giert durch die Straßen der Stadt“ und einmal mit einer alternativen Formulierung wie “ Die Kriminalität ist ein streunender Hund“. Die Wahl der Metapher prägte die anschließenden Lösungsempfehlungen der Teilnehmer signifikant.
Die Frage nach der Determination
Ein viel diskutiertes Thema ist, wie determinierend der Einfluss von Sprache auf die Realitätswahrnehmung ist. Prägt Sprache unser Denken deterministisch und vollkommen, wie der radikale Interpretationsansatz nahelegt? Oder ist der Zusammenhang wechselseitig und Sprache lediglich ein „Fenster“ zur Konstruktion, nicht die Determinante selbst?
Viele moderne Linguisten und Kognitionsforscher sehen einen gemäßigteren Ansatz als zielführender an. Unsere Weltsicht wird demnach zwar nachhaltig, aber nicht deterministisch von sprachlichen Kategorien und Strukturen geprägt und gelenkt. Letztlich bilden Sprache und die Kognition eine sich gegenseitig beeinflussende, symbiotische Einheit. Sprache ist daher eher „formend“ als „determinierend“.
Ein lebendiger Kreislauf
Die Beziehung von Sprache und Realitätswahrnehmung ist also ein faszinierender, dynamischer Kreislauf. Unsere Sprache formt und rahmt die Art und Weise, wie wir die Welt erleben und konstruieren. Gleichzeitig ist Sprache selbst ein in hohem Maße plastisches, offenes System, das sich mit seinen Sprechern und deren Realitätswahrnehmung kontinuierlich verändert und weiterentwickelt.
Neue Erkenntnisse, Erfahrungen und Konzepte führen zu neuen Begriffen, die wiederum neue Sichtweisen auf die Realität eröffnen. Dieses faszinierende Wechselspiel hat Sprache und Kognition über Äonen zu den höchst komplexen Systemen geformt, die sie heute sind.
Am Ende bleibt die Frage, was die Henne und was das Ei war – Sprache die Determinante unserer Realitätswahrnehmung oder selbst deren Ausdruck? Eine Frage, die vielleicht nie endgültig beantwortet werden kann. Denn Sprache und Kognition, die Fähigkeit Realität zu konstruieren, sind zu sehr miteinander verwoben und haben sich Ko-evolutionary über Jahrtausende wechselseitig geschaffen und geformt.
Letztlich existieren Sprache und Realitätswahrnehmung in einem ständigen, dynamischen Fluss der gegenseitigen Beeinflussung. Wir können die Welt nicht anders wahrnehmen und erfahren als durch die Linse unserer Sprache – und gleichzeitig schaffen und verändern unsere Erfahrungen und Konzeptionen permanent die Sprache aufs Neue.
Es ist ein fortwährender Kreislauf des Werdens und der Ko-Evolution, in dem mentale Werkzeuge wie die Sprache entstehen, um die vielschichtige Realität zu erfassen und zu verarbeiten. Ebendiese Erfassung verändert aber wiederum die Werkzeuge, um der neu gestalteten Realitätswahrnehmung besser gerecht zu werden. Ein Prozess ohne Anfang und Ende, der dem Menschen seit Anbeginn der Zivilisation die einzigartigen Fähigkeiten der Begriffsbildung und Abstraktion ermöglicht hat.
Sprache ist der Stoff, aus dem die Welt ist, die wir jemals begreifen können. Ohne sie gäbe es nur eine Un-Welt der sinnlosen Eindrücke. Mit ihr konstruieren wir Bedeutung aus dem scheinbaren Chaos und machen uns die Realität selbst zur Sprache. Ein immerwährendes Wechselspiel der Gegensätze aus Determination und Freiraum – die große Synthese des menschlichen Erlebens.